Page 4 - Unsere Brücke Dezember 2021
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 Univ.-Prof. Mag. Dr. Michael Hofer Professor für Theo- retische Philosophie KU Linz
In Extremen wird manches sichtbarer, da es in grelles Licht getaucht ist. Von solchen Extremsituationen erzählt Imre Kertesz. Er erzählt von Auschwitz und Birkenwald und er versteht es, das Erleben
eines Vierzehnjährigen ins Universale zu wenden. Was hier erzählt wird, geht alle an. 2002 erhielt er den Literaturnobelpreis. So ist
von folgender Begebenheit die Rede: Im Konzentrationslager erfolgt die Ausgabe der Essensration und irgendwie ergibt es sich, dass ein Mithäftling, genannt „Herr Lehrer“, die doppelte Ration bekommt und der Ich-Erzähler leer ausgeht. Der Ich-Erzähler schätzt die Situa- tion auf deren Folgen hin ab: Verminderung der eigenen Überleben- schancen und zugleich Verdoppelung der Chancen für den „Herrn Lehrer“. Was dann passiert, macht die „Unausrottbarkeit“ einer Idee, wie er es nennt, offenbar. Er bekommt seine Essensration vom „Herrn Lehrer“. Der begegnet dem erstaunten Blick des Ich-Erzählers mit den Worten: „Was hast Du denn gedacht?!...“ – Wir wissen, was der Ich-Erzähler gedacht hat; der „Herr Lehrer“ beugt sich allerdings nicht diesem Kalkül. Indem er sich gegen seine Lebensinteressen entscheidet, tut er etwas, das er nicht hätte tun müssen. Durch diese Entscheidung übersteigt er zugleich die Situation des totalen Zwangs und der Vernichtung, wie es das Konzentrationslager darstellte.
Mit uns Menschen ist ein Lebewesen in die Welt gekommen, dem es um mehr geht, als ums bloße Überleben. Der Lebenswille kann ins Verhältnis gesetzt werden zu einer Form des Lebens, die wir unserem Leben geben wollen: Wer will ich sein? Wonach richte ich mein Leben aus? Worauf will ich mich selbst verpflichten? Biologische Vollzüge und das Verfolgen von Vitalinteressen sind also nicht allein ausschlaggebend. Daraus resultiert eine Doppeldeutigkeit oder auch ein Überschuss: Der aufrechte Gang, den der Mensch angenommen hat, meint eben nicht nur das physische Phänomen des Aufrichtens unseres Körpers, sondern er kann auch sinnbildlich genommen werden: Wie weit gelingt es, den aufrechten Gang beizubehalten, Haltung zu bewahren und ein Rückgrat zu haben? Wo verbiegen wir uns und ordnen uns Zwängen und Anforderungen unter? Schließlich ist der aufrechte Gang – sowohl in physischer als auch in „ideeller“ Hinsicht – höchst instabil: Ständig sind wir bemüht, unser Gleich- gewicht zu halten. Sturz oder einzuknicken sind eine reale Gefahr. Den Kopf hochzuhalten, ist also eine Anstrengung! Es geht nicht von selbst.
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Die Doppeldeutigkeit im Menschsein




























































































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